Mit Anfang 20 bin ich durch Südamerika gereist. Während einer 20-stündigen Busfahrt saß ich neben einer jungen Frau. Wir haben während der ganzen Fahrt nicht miteinander gesprochen, ich kannte ihren Namen nicht und doch fühlte ich mich mit ihr auf besondere Weise verbunden.
Kurz bevor sie ausstieg, fragte ich sie, ob ich sie küssen darf. Sie hat „Ja“ gesagt. Wir haben uns geküsst, sie ist ausgestiegen und ich bin weitergefahren. Ein einmaliges intensives Erlebnis.
Wenn ich an den Kuss denke, kann ich mich an ein Lebensgefühl von damals erinnern:
Ich war sorglos, übermütig, zuversichtlich und frei. Nicht immer, aber doch sehr oft. Es war so ein Gefühl von „Was kostet die Welt?“ oder „Jeder Tag ein Abenteuer!“
Bei der Erinnerung an diese Zeit fühle ich mich wieder sehr lebendig.
Durch meinen Beruf treffe ich viele Menschen, die sich nach dem freien Gefühl ihrer Jugend sehnen und sich heute manchmal innerhalb ihrer eigenen Grenzen erstarrt fühlen. Das gilt auch für die Grenzen, die der Einzelne durch feste und dauerhafte Beziehungen spürt, ob verheiratet oder nicht. Auch in Freundeskreisen gibt es das.
In jungen Jahren überschreiten Menschen öfter Grenzen – aus Neugier, Leichtsinn, Lebensfreude und oft aus einem spontanen Erleben heraus.
Irgendwann einmal ändert sich etwas. Dann bleiben wir mehr in unseren Grenzen, passen sie an – an die Grenzen von Vorgesetzten, Partnern, Familie und Menschen in unserem Umfeld.
Wir richten uns unser Leben innerhalb dieser Grenzen ein und für eine gewisse Zeit ist alles gut.
Doch irgendwann blitzt die Erinnerung an frühere Erfahrungen und Grenzüberschreitungen wieder auf. Eine Sehnsucht Grenzen zu übertreten. Endlich wieder mal. Noch einmal. Wir beginnen, uns danach zu sehnen Grenzen niederzureißen oder, wenn das nicht geht oder zu radikal ist, sie zumindest zu übertreten. Und es geht vor allem um das Gefühl der Lebendigkeit, das wir dabei wieder spüren wollen.
Oft genug tun Menschen das auch. Und erleben dabei doch nicht mehr das Gefühl, dass sie suchen oder vermissen – denn zwischen den Erfahrungen liegen Jahre, manchmal Jahrzehnte. Eine Zeit, in der in festen Beziehungen Liebe, Vertrauen und Loyalität gewachsen ist.
Sollen wir es dann doch lieber lassen und uns für immer in unseren Grenzen arrangieren?
Sicher nicht. Wir dürfen immer wieder nachspüren, welche Grenzen uns gut tun und welche nicht. Nur über eins sollten wir uns klar sein: Das Überschreiten von Grenzen „aus purer Lebensfreude“, das uns als Lebensgefühl früher begeistert und beflügelt hat, lässt sich Jahre später nicht einfach so wiederholen. Ein spontaner Kuss im Bus hätte heute vielleicht Folgen, die wir in letzter Konsequenz gar nicht möchten. Lebendig fühlen können wir uns auch so.
*Name geändert