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ICH GLAU­BE AN EUROPA.

Stefanie Marek, 43 Jahre, Kommunikations­beraterin

Das Abstim­mungs­er­geb­nis der Bri­ten zum Brexit hat mich ver­stört: Wie kann man so etwas Tol­les wie Euro­pa nicht wollen?

Ich bin in Her­zo­gen­rath in der Nähe von Aachen an der Gren­ze zu den Nie­der­lan­den und Bel­gi­en auf­ge­wach­sen. In einer Regi­on, in der Euro­pa als eine gro­ße Errun­gen­schaft gefei­ert wur­de und die sich grenz­über­schrei­tend als „Eure­gio Maas Rhein“ bezeichnet. 
Wo ein­mal im Jahr an Chris­ti Him­mel­fahrt der inter­na­tio­na­le Karls­preis ver­lie­hen wird, an Men­schen, Län­der oder Insti­tu­tio­nen, die sich um das ver­ein­te Euro­pa ver­dient machen. Wo dann auf den his­to­ri­schen Plät­zen die bun­ten Flag­gen der euro­päi­schen Staa­ten wehen und die gan­ze Stadt fröh­lich auf den Bei­nen ist. 
Wo wir froh waren, zum Frit­ten Holen nicht mehr an zwei Grenz­sta­tio­nen die Aus­wei­se vor­zei­gen zu müs­sen und die Frit­ten zu Hau­se warm auf den gedeck­ten Tisch stel­len konnten. 
Wo aus zwei Stra­ßen mit jeweils zwei Fahr­spu­ren unmit­tel­bar an der Gren­ze in Form eines 35 cm hohen Mäu­er­chens eine gemein­sa­me Stra­ße wur­de. Seit 1993 wird die Stra­ße in bei­de Rich­tun­gen befah­ren, die Grenz­mau­er ist weg. Auf der einen Stra­ßen­sei­te ist jetzt Deutsch­land und die „Neu­stra­ße“, auf der ande­ren sind die Nie­der­lan­de und die „Nieuw­stra­at“. Seit 1995 hei­ßen die Gemein­den Her­zo­gen­rath und Kerk­ra­de gemein­sam EURODE.

Das funk­tio­niert.

Ich füh­le mich in Euro­pa zu Hau­se. Ob ich in Ita­li­en an einer klei­nen Kir­che im Son­nen­un­ter­gang am Meer ste­he oder in Ams­ter­dam an den Grach­ten ent­lang­rad­le. Im pol­ni­schen Schle­si­en freue ich mich, dass die frü­he­re Hei­mat mei­nes Vaters jetzt auch zu Euro­pa gehört und sie damit eben­so ein zugäng­li­cher Teil von mir ist. Selbst mein eige­nes Land ist mit sei­nen Bun­des­län­dern unter­schied­lich und doch eins. Seit 14 Jah­ren lebe ich in Mün­chen und habe immer noch das Gefühl, sowohl in Ita­li­en als auch in Hol­land oder Deutsch­land „zu Hau­se“ zu sein, weil es ein­fach alles zu Euro­pa gehört.

Wie trau­rig und kurz­sich­tig, dass jetzt vor allem die älte­ren Bri­ten durch ihre Wahl zum Aus­stieg aus der EU der Jugend ihres Lan­des die Zukunft der frei­en Gren­zen neh­men und sie in die Iso­la­ti­on schi­cken wol­len. Sie haben offen­bar ver­ges­sen oder ver­drängt, dass es in Euro­pa um mehr geht als Geld.

Euro­pa ist nach dem 2. Welt­krieg ent­stan­den, weil alle ein­ge­se­hen haben, dass es mit­ein­an­der bes­ser funk­tio­niert als gegen­ein­an­der. Tote in fast jeder Fami­lie, zer­stör­te Städ­te, Ver­zweif­lung dar­über zu was Men­schen fähig sind… der Schre­cken über das Erleb­te ist für uns heu­te nur theo­re­tisch nach­voll­zieh­bar. Wir leben in einem Land, auf des­sen Gebiet seit über 70 Jah­ren kein Krieg aus­ge­tra­gen wur­de. Ein paar hun­dert Kilo­me­ter süd­lich im ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en ist das schon anders. Und in Syri­en sowie­so. Je wei­ter süd­lich und öst­lich wir gehen wird es immer unfriedlicher.

Der Frie­den ist der größ­te Wert Europas.

Ich kann daher ver­ste­hen, dass Men­schen aus ande­ren Län­dern auch in Frie­den leben möch­ten und des­halb nach Euro­pa kom­men. Wobei ich auch glau­be, dass die meis­ten lie­ber Frie­den im eige­nen Land hät­ten, als sich in einem frem­den Land zurecht fin­den und inte­grie­ren zu müssen

Dabei ist Inte­gra­ti­on etwas, das nicht nur not­wen­dig ist, wenn man von einem Land in ein ande­res zieht. Inte­grie­ren müs­sen wir uns alle – jeden Tag: In der eige­nen Fami­lie, im Kin­der­gar­ten, in der Schu­le, am Arbeits­platz, in der Sport­mann­schaft, in der Thea­ter­grup­pe, im Orches­ter, in der U‑Bahn, auf der Roll­trep­pe. Es ist gut zu wis­sen, wo man sel­ber steht und was einem wich­tig ist. Dann kann man sich auch mit­ein­an­der auf Augen­hö­he ver­stän­di­gen und gemein­sa­men All­tag fried­lich gestal­ten: St. Mar­tins-Umzug oder Lich­ter­fest oder eine eige­ne Kom­bi­na­ti­on von Traditionen.

Dem Direk­tor mei­ner Grund­schu­le ist das gut gelun­gen. Er ist für mich ein Vor­bild für den respekt­vol­len Umgang mit frem­den Kul­tu­ren im All­tag. Er war ein fei­ner Mensch, ein begeis­ter­ter Musik­leh­rer und davon über­zeugt, dass Inte­gra­ti­on im Klei­nen zum Frie­den bei­tra­gen kann. Sei­ne Erfah­run­gen als jun­ger Sol­dat im 2. Welt­krieg und die anschlie­ßen­de Kriegs­ge­fan­gen­schaft haben ihn sehr geprägt und vor Augen geführt, wie wich­tig Völ­ker­ver­stän­di­gung ist.

So hat er wäh­rend mei­ner Grund­schul­zeit vor über 40 Jah­ren schon dafür gesorgt, dass die 2–3 „Gast­ar­bei­ter­kin­der“ aus der Tür­kei, die pro Klas­se in unse­re klei­ne katho­li­sche Grund­schu­le gin­gen, ein­mal in der Woche von einem tür­ki­schen Leh­rer unter­rich­tet wur­den. Die ande­ren deut­schen Kin­der hat­ten wäh­rend der Zeit katho­li­sche und evan­ge­li­sche Reli­gi­on. Der Direk­tor war sel­ber ein gläu­bi­ger Christ und woll­te, dass Kin­der sich mit ihren eige­nen Wur­zeln beschäf­ti­gen kön­nen. Er hat dem Eige­nen und dem Frem­den Raum gege­ben. So gab es auf unse­ren Schul-Som­mer­fes­ten auch immer tür­ki­sche Müt­ter, die tür­ki­schen Honig und Gebäck anbo­ten. Wir hat­ten bei­des: Brat­wurst und Baklava.

Das Auf­wach­sen im Grenz­ge­biet und der Kon­takt zu Men­schen aus ande­ren Kul­tu­ren hat mich geprägt. Ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben von unter­schied­li­chen Men­schen aus unter­schied­li­chen Staa­ten ist mög­lich. Es braucht dafür Selbst­be­wusst­sein für die eige­nen Wer­te, Tole­ranz gegen­über den Wer­ten ande­rer und die Fähig­keit, sich dar­über gemein­sam zu verständigen.

Aber ich glau­be dar­an, dass das funk­tio­nie­ren kann. Ich glau­be an Europa.

 

 

Das Foto hat sei­ne eige­ne Geschich­te: Der grenz­über­schrei­ten­de Hand­schlag aus dem Jahr 1973 war eine gewoll­te Provokation.Die Grenz­über­schrei­tung über die Grenz­mau­er hin­weg war damals noch ver­bo­ten. Initi­iert vom Her­zo­gen­ra­ther Theo Kutsch, der im deut­schen Wagen sitzt und einen vor­bei­fah­ren­den Nie­der­län­der extra für die Auf­nah­me ange­hal­ten hat­te, wur­de es vom Foto­gra­fen Sven Simon, dem Sohn von Axel Sprin­ger, foto­gra­fiert und erschien danach sogar in der New York Times. 
Die Ver­wen­dung des Fotos erfolgt mit Geneh­mi­gung von Theo Kutsch, es ist ent­nom­men aus Theo Kutsch & Man­fred Bier­ganz: Her­zo­gen­rath. Die leben­di­ge Grenz­stadt in Bil­dern ver­gan­ge­ner Tage. Grenz­land­ver­lag Eupen, 1993.

Mehr über die beson­de­re Grenz­si­tua­ti­on zwi­schen Her­zo­gen­rath und Kerk­ra­de erfährt man in der mul­ti­me­dia­len Repor­ta­ge des WDR:

WDR REPOR­TA­GE: Kanns­te kni­cken, die Grenze

 

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DAS WAR HALT SO.”

Gudrun Waltenberger*, 78 Jahre, Schneiderin, 3 Kinder, 4 Enkelkinder

Ich bin Jahr­gang 1937, mein Vater ist im Krieg gefal­len, mei­ne Mut­ter war Kriegs­wit­we. Vor ihrer Lebens­leis­tung habe ich gro­ßen Respekt. Sie gehört zur „Ver­ges­se­nen Gene­ra­ti­on“.
Die „Ver­ges­se­ne Gene­ra­ti­on“ hat zwei Krie­ge mit­ge­macht und ein Leben geführt, dass wir uns heu­te gar nicht mehr vor­stel­len kön­nen. Heu­te ist es schon fast selbst­ver­ständ­lich, dass Kriegs­op­fer psy­cho­lo­gi­sche Hil­fe bekom­men, um ihre trau­ma­ti­schen Erleb­nis­se zu bewäl­ti­gen.
Damals hat die­se Men­schen nie­mand gefragt, wie es ihnen denn geht – nach Ver­trei­bung oder Flucht aus der Hei­mat, Bom­ben­näch­ten oder dem Tod von Fami­li­en­mit­glie­dern. Es war eine ande­re Zeit.
Mei­ne Mut­ter und ich haben nach dem Krieg in der Münch­ner Innen­stadt in einer Zwei­ein­halb­zim­mer-Woh­nung mit 60m² gewohnt. Weil ja vie­le Woh­nun­gen aus­ge­bombt waren, muss­ten wir zwei der zwei­ein­halb Zim­mer an zwei wei­te­re Ehe­paa­re „zwangs­un­ter­ver­mie­ten“. Ich habe als Kind in der Küche auf dem Boden geschla­fen und jeden Mor­gen mei­ne Schlafrol­le zusam­men­ge­packt. Das war halt so.
Wir hat­ten oft Hun­ger. Lebens­mit­tel gab es nur auf Kar­te. Als mei­ne Mut­ter gestor­ben war, habe ich noch alte Lebens­mit­tel­kar­ten in ihren Unter­la­gen gefun­den. Sie hat sie als Erin­ne­rung an schlech­te Zei­ten behal­ten und viel­leicht auch befürch­tet, dass sie sie noch mal brau­chen könn­te…
Weil ich Not und Hun­ger erlebt habe, genie­ße ich mei­nen Wohl­stand heu­te sehr und bin dank­bar, dass es heu­te so ist wie es ist.

*Name geän­dert

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