Das Abstimmungsergebnis der Briten zum Brexit hat mich verstört: Wie kann man so etwas Tolles wie Europa nicht wollen?
Ich bin in Herzogenrath in der Nähe von Aachen an der Grenze zu den Niederlanden und Belgien aufgewachsen. In einer Region, in der Europa als eine große Errungenschaft gefeiert wurde und die sich grenzüberschreitend als „Euregio Maas Rhein“ bezeichnet.
Wo einmal im Jahr an Christi Himmelfahrt der internationale Karlspreis verliehen wird, an Menschen, Länder oder Institutionen, die sich um das vereinte Europa verdient machen. Wo dann auf den historischen Plätzen die bunten Flaggen der europäischen Staaten wehen und die ganze Stadt fröhlich auf den Beinen ist.
Wo wir froh waren, zum Fritten Holen nicht mehr an zwei Grenzstationen die Ausweise vorzeigen zu müssen und die Fritten zu Hause warm auf den gedeckten Tisch stellen konnten.
Wo aus zwei Straßen mit jeweils zwei Fahrspuren unmittelbar an der Grenze in Form eines 35 cm hohen Mäuerchens eine gemeinsame Straße wurde. Seit 1993 wird die Straße in beide Richtungen befahren, die Grenzmauer ist weg. Auf der einen Straßenseite ist jetzt Deutschland und die „Neustraße“, auf der anderen sind die Niederlande und die „Nieuwstraat“. Seit 1995 heißen die Gemeinden Herzogenrath und Kerkrade gemeinsam EURODE.
Das funktioniert.
Ich fühle mich in Europa zu Hause. Ob ich in Italien an einer kleinen Kirche im Sonnenuntergang am Meer stehe oder in Amsterdam an den Grachten entlangradle. Im polnischen Schlesien freue ich mich, dass die frühere Heimat meines Vaters jetzt auch zu Europa gehört und sie damit ebenso ein zugänglicher Teil von mir ist. Selbst mein eigenes Land ist mit seinen Bundesländern unterschiedlich und doch eins. Seit 14 Jahren lebe ich in München und habe immer noch das Gefühl, sowohl in Italien als auch in Holland oder Deutschland „zu Hause“ zu sein, weil es einfach alles zu Europa gehört.
Wie traurig und kurzsichtig, dass jetzt vor allem die älteren Briten durch ihre Wahl zum Ausstieg aus der EU der Jugend ihres Landes die Zukunft der freien Grenzen nehmen und sie in die Isolation schicken wollen. Sie haben offenbar vergessen oder verdrängt, dass es in Europa um mehr geht als Geld.
Europa ist nach dem 2. Weltkrieg entstanden, weil alle eingesehen haben, dass es miteinander besser funktioniert als gegeneinander. Tote in fast jeder Familie, zerstörte Städte, Verzweiflung darüber zu was Menschen fähig sind… der Schrecken über das Erlebte ist für uns heute nur theoretisch nachvollziehbar. Wir leben in einem Land, auf dessen Gebiet seit über 70 Jahren kein Krieg ausgetragen wurde. Ein paar hundert Kilometer südlich im ehemaligen Jugoslawien ist das schon anders. Und in Syrien sowieso. Je weiter südlich und östlich wir gehen wird es immer unfriedlicher.
Der Frieden ist der größte Wert Europas.
Ich kann daher verstehen, dass Menschen aus anderen Ländern auch in Frieden leben möchten und deshalb nach Europa kommen. Wobei ich auch glaube, dass die meisten lieber Frieden im eigenen Land hätten, als sich in einem fremden Land zurecht finden und integrieren zu müssen
Dabei ist Integration etwas, das nicht nur notwendig ist, wenn man von einem Land in ein anderes zieht. Integrieren müssen wir uns alle – jeden Tag: In der eigenen Familie, im Kindergarten, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Sportmannschaft, in der Theatergruppe, im Orchester, in der U‑Bahn, auf der Rolltreppe. Es ist gut zu wissen, wo man selber steht und was einem wichtig ist. Dann kann man sich auch miteinander auf Augenhöhe verständigen und gemeinsamen Alltag friedlich gestalten: St. Martins-Umzug oder Lichterfest oder eine eigene Kombination von Traditionen.
Dem Direktor meiner Grundschule ist das gut gelungen. Er ist für mich ein Vorbild für den respektvollen Umgang mit fremden Kulturen im Alltag. Er war ein feiner Mensch, ein begeisterter Musiklehrer und davon überzeugt, dass Integration im Kleinen zum Frieden beitragen kann. Seine Erfahrungen als junger Soldat im 2. Weltkrieg und die anschließende Kriegsgefangenschaft haben ihn sehr geprägt und vor Augen geführt, wie wichtig Völkerverständigung ist.
So hat er während meiner Grundschulzeit vor über 40 Jahren schon dafür gesorgt, dass die 2–3 „Gastarbeiterkinder“ aus der Türkei, die pro Klasse in unsere kleine katholische Grundschule gingen, einmal in der Woche von einem türkischen Lehrer unterrichtet wurden. Die anderen deutschen Kinder hatten während der Zeit katholische und evangelische Religion. Der Direktor war selber ein gläubiger Christ und wollte, dass Kinder sich mit ihren eigenen Wurzeln beschäftigen können. Er hat dem Eigenen und dem Fremden Raum gegeben. So gab es auf unseren Schul-Sommerfesten auch immer türkische Mütter, die türkischen Honig und Gebäck anboten. Wir hatten beides: Bratwurst und Baklava.
Das Aufwachsen im Grenzgebiet und der Kontakt zu Menschen aus anderen Kulturen hat mich geprägt. Ein friedliches Zusammenleben von unterschiedlichen Menschen aus unterschiedlichen Staaten ist möglich. Es braucht dafür Selbstbewusstsein für die eigenen Werte, Toleranz gegenüber den Werten anderer und die Fähigkeit, sich darüber gemeinsam zu verständigen.
Aber ich glaube daran, dass das funktionieren kann. Ich glaube an Europa.
Das Foto hat seine eigene Geschichte: Der grenzüberschreitende Handschlag aus dem Jahr 1973 war eine gewollte Provokation.Die Grenzüberschreitung über die Grenzmauer hinweg war damals noch verboten. Initiiert vom Herzogenrather Theo Kutsch, der im deutschen Wagen sitzt und einen vorbeifahrenden Niederländer extra für die Aufnahme angehalten hatte, wurde es vom Fotografen Sven Simon, dem Sohn von Axel Springer, fotografiert und erschien danach sogar in der New York Times.
Die Verwendung des Fotos erfolgt mit Genehmigung von Theo Kutsch, es ist entnommen aus Theo Kutsch & Manfred Bierganz: Herzogenrath. Die lebendige Grenzstadt in Bildern vergangener Tage. Grenzlandverlag Eupen, 1993.
Mehr über die besondere Grenzsituation zwischen Herzogenrath und Kerkrade erfährt man in der multimedialen Reportage des WDR:
WDR REPORTAGE: Kannste knicken, die Grenze